Mit zahlreichen, oft sehr komplexen Modellen sind wir geneigt, Risiken im Leben zu erkennen, zu bewerten und zu vermeiden. Risikomanagement, das systematische Erkennen, Analysieren, Bewerten, Überwachen und Kontrollieren von Risiken, zählt zu den wichtigsten Management- und Controlling-Tools.
Aber sind die Ergebnisse dieser Modelle immer hilfreich? Schützen sie uns vor unerwünschten Ereignissen? Warum haben sämtliche Risikomodelle der Finanzwirtschaft die Risiken 2008 nicht oder nur unzureichend erkannt?
Um Sinn und Unsinn von Modellen und Tools des Risikomanagements erkennen zu können, müssen wir uns zunächst ansehen, was hinter dem Begriff "Risiko" steht. Hierzu ein kleiner Ausflug in die Entscheidungstheorie.
Unser Leben stellt eine laufende Abfolge von Entscheidungen dar. Hiervon verlaufen 99% unbewusst, wie Routineentscheidungen und Reflexe. Nur 1% unserer täglichen Entscheidungen bedürfen bewusster Überlegungen. Diese können von geringem kognitivem Aufwand sein, wie bei stereotypen Entscheidungsprozessen (Was darf es heute zum Frühstück sein?), bis hin zu komplexen (konstruktiven) Prozessen (Produktion von Artikel A oder Artikel B).
Jede Entscheidungssituation fordert von uns, aus einer Menge definierter und/oder undefinierter Wahlmöglichkeiten (Optionen) mit uns bekannten oder nicht bekannten Fern- und Nebenwirkungen EINE Option auszuwählen. Je nachdem, wie viel wir über die Menge an Optionen und deren Fern- und Nebenwirkungen wissen, unterscheidet man Entscheidungen unter Sicherheit und Entscheidungen unter Unsicherheit.
Entscheidungen unter Sicherheit
Selbst Entscheidungen unter Sicherheit fallen uns nicht immer einfach. Uns sind alle verfügbaren Optionen, sowie deren Fern- und Nebenwirkungen bekannt. Wir haben eine klare Erwartungshaltung, die auch bei einmaligem Nichteintreten unverändert bleibt. Beispielsweise das Einschalten des Computers oder das Umdrehen des Zündschlüssels im Auto.
In Situationen der Sicherheit machen die Ergebnisse von Risikomanagement-Tools Sinn. Auf Basis der genauen Daten können die Modelle zutreffend gefüttert werden und die Ergebnisse der Berechnungen haben Aussagekraft für die aktuelle Situation.
Doch wie häufig finden wir diese optimalen Bedingungen? Und brauchen wir in Situationen der Sicherheit die Unterstützung komplexer Modelle? Sind es nicht vielmehr die Situationen der Unsicherheit, in denen wir uns von Modellen Leitlinien und Informationen für unsere Entscheidungsfindung erhoffen?
Entscheidungen unter Unsicherheit
In diesen Entscheidungssituationen sind uns die Vielzahl an Optionen und deren Auswirkungen nur teilweise oder gar nicht bekannt. Oft handelt es sich für uns um unbekannte, neue Situationen, sodass wir nur ein geringes Erfahrungswissen haben.
Da das Gefühl von Sicherheit mit der Wahrnehmung von Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit verbunden ist, suchen wir nach Entscheidungen unter Sicherheit.
Auch dann, wenn es eigentlich keine Sicherheit gibt. Gerne vertrauen wir auf Aussagen vermeintlicher Experten und folgen deren Urteilen. Wir erleben das Gefühl von Sicherheit und sind umso stärker überrascht, wenn das erwartete Ergebnis nicht eintrifft. In der Wissenschaft spricht man von Entscheidungen unter falscher Sicherheit. Beispielsweise sind wir geneigt den Urteilen von Ärzten und medizinischen Untersuchungsergebnissen nahezu blind zu vertrauen. Auch haben sich zahlreiche private wie institutionelle Anleger auf die Bewertungen von Ratingagenturen verlassen. Beides Beispiele für Entscheidungen unter falscher Sicherheit.
Leider helfen uns Risikomanagement-Tools in diesen Situationen gar nicht. Gefüttert mit falschen Daten und Fakten, sind die Aussagen der Modelle für die Realität wertlos. Hier hilft nur: Prüfe die Quelle deiner Information und deren Motivation.
Auf der nächsten Stufe Richtung Unsicherheit finden wir die Entscheidungen unter Risiko. Mögliche Fern- und Nebenwirkungen der einzelnen Optionen sind bekannt. Auch kennen wir die Eintrittswahrscheinlichkeiten der verschiedenen Ergebnisse. Glücksspiele zählen überwiegend zu diesen Entscheidungssituationen. Auf Basis von Entscheidungsbäumen können die Ergebnisse und Wahrscheinlichkeiten bestimmt werden und mathematisch die beste Wahl getroffen werden.
In Entscheidungssituationen unter Risiko kann der Einsatz von Risikomodellen hilfreich sein. Ist es möglich die Eintrittswahrscheinlichkeiten möglichst genau zu bestimmen, so stellen die Modelle eine Annäherung an die Entscheidungssituation dar. Annäherung, da Modellfehler und Vereinfachungen der Realität zu Verzerrungen und Fehleinschätzungen führen können. Ein "Detail", das wir gerne übersehen. Je mehr Faktoren zwischen Modell und Realität abweichen, umso geringer wird dessen Aussagekraft.
Auch vergessen wir leicht, dass die Modellergebnisse stets Momentaufnahmen sind. Verändern sich die Rahmenbedingungen, so sind die Berechnungen wertlos. In einer schnelllebigen Welt wie heute, ist nicht ausreichend Zeit für Datenerfassung, Eingabe und Berechnung. So verlässt man sich häufig auf veraltete Risikokennzahlen und Modellszenarien und fühlt sich fälschlicherweise sicher.
Nun aber zur wichtigsten Gruppe der Entscheidungssituationen. Meist liegt uns kein Wissen über die Menge der Optionen, deren Fern- und Nebenwirkungen sowie deren Eintrittswahrscheinlichkeiten vor. Bei den meisten wirtschaftlichen Entscheidungen und solchen, die unser Leben betreffen, handelt es sich um Entscheidungen unter Ungewissheit. Wir kennen nur einen Teil der möglichen Optionen und können dadurch deren Fern- und Nebenwirkungen nur teilweise bestimmen. Genaue Daten zu den Eintrittswahrscheinlichkeiten liegen nur unzureichend oder gar nicht vor.
Wie sinnvoll sind Risikomanagementmodelle in Situationen der Ungewissheit? Sinnlos.
Sobald uns konkret beobachtbare und messbare Daten fehlen, stellen die Ergebnisse der Risikomanagement-Tools einige von vielen Zukunftsvarianten dar. Meist werden Annahmen und Schätzungen für unbekannte Werte in die Modelle eingespielt, sodass deren Ergebnis wenig bis nichts mit der zukünftigen Entwicklung zu tun hat. Was diese Modelle stattdessen machen, ist, uns das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Wir meinen in einer berechenbaren Situation des Risikos zu agieren und übersehen dabei das Ungewisse. Wir erleben das Gefühl von Kontrollier- und Steuerbarkeit und sind dadurch geneigt riskantere Optionen zu wählen. Unsere Risikofreudigkeit steigt.
"Wenn Personen das Gefühl haben, sie können etwas vorhersagen, dann bereiten sie sich nicht mehr auf schlimmere Fälle vor. Dabei sollte es genau andersherum sein: Je mehr man vorhersagen kann, umso besser sollte man sich auf Ernstfälle vorbereiten."
(Statiker Nate Silver im Standard Interview vom 02.09.2013)
Die hohe Anziehungskraft von Modellen und Tools der Risikomessung und des Risikomanagements besteht nicht in ihren treffsicheren Aussagen, vielmehr besteht sie darin, dass sie uns ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, in dem aus Entscheidungen unter Ungewissheit Entscheidungen unter Risiko werden.
Bereits der Begriff „Ungewissheit“ wirkt bedrohlicher, als der Begriff „Risiko“. Spricht man von Ungewissheit läuten die Alarmglocken und unsere Entscheidungsfreudigkeit reduziert sich. In der Forschung spricht man vom Ellsberg-Paradoxon. Es besagt, dass Menschen, wenn sie sich zwischen den Optionen „Risiko“ oder „Ungewissheit“ entscheiden müssen, eher das Risiko wählen. Denn auf Basis bekannter Wahrscheinlichkeiten können wir Ideen über die Zukunft entwickeln. Dies vermittelt uns subjektive Sicherheit – Sicherheit über die Möglichkeiten des Ausganges.
Das Ellsberg-Paradoxon in einem kleinen Beispiel. Lesen Sie den Text und entscheiden Sie sich zwischen Variante A und Variante B.
Sie wissen, dass in einer Urne mit 90 Kugeln 30 davon rot sind. Die Verteilung der übrigen Kugeln in gelbe und schwarze ist Ihnen nicht bekannt. Welche der folgenden Wetten bevorzugen Sie?
Variante A: Wenn Sie eine rote Kugel ziehen, gewinnen Sie. Bei Schwarz oder Gelb verlieren Sie.
Variante B: Wenn Sie eine gelbe Kugel ziehen, gewinnen Sie. Bei Schwarz oder Rot verlieren Sie.
Falls Sie sich für Variante A entschieden haben befinden Sie sich in guter Gesellschaft. In zahlreichen Untersuchungen wählte die Mehrheit der Teilnehmer diese Variante. Hier ist das Risiko bekannt: Die Gewinnchance bei einem einmaligen Versuch liegen bei 1/3. Die ungewisse Situation (Variante B) wird hingegen gemieden.
Was tun im Alltag? Vertrauen Sie Ihrem kritischen Geist mehr, als mathematischen Kennzahlen. Falsch eingesetzte Risikomanagement-Tools führen vor allem dazu, dass unsere Risikofreudigkeit zunimmt aber dadurch nicht zwingend zu einer Risikoreduktion. Folgende Gedanken können in der Praxis hilfreich sein:
Prüfen Sie, ob Experten und Modelle tatsächlich kompetente Angaben für die jeweilige Fragestellung liefern können. Welche (eigenen) Motive könnten Experten und Modelle verfolgen?
Beachten Sie die Einschränkungen, Fehlerquellen und Schätzfehler von Modellen und Tools. Welche Auswirklung haben diese auf die Aussagekraft der Modellergebnisse?
Denken Sie an das Ungewisse: Welche Handlungsmöglichkeiten haben Sie, wenn es anders kommt?
Üben Sie sich in der Unterscheidung von Situationen unter Risiko und Situationen unter Ungewissheit. In Situationen der Ungewissheit sollten Sie den Einsatz von Risikomodellen vermeiden, denn die Modelle vermitteln Ihnen falsche Sicherheit. Ihre Risikofreudigkeit steigt, Ihre Flexibilität in der Reaktion auf Unerwartetes sinkt.
Zum Abschluss quergedacht: Ungewissheit macht Veränderung und Unmögliches möglich. Ohne Ungewissheit würden wir unser Leben als sehr langweilig wahrnehmen.
Literaturhinweise:
Becker, Dirk (2008). Womit handeln Banken? Eine Untersuchung zur Risikoverarbeitung in der Wirtschaft. Berlin: Edition Suhrkamp.
Böhmer, Gerd (2010). Neuroökonomie: Neuronale Mechanismen ökonomischer Entscheidungen. Mainz: Johannes Gutenberg-Universität.
Braun, Walter (2010): Die (Psycho-)Logik des Entscheidens. Fallstricke, Strategien und Techniken im Umgang mit schwierigen Situationen. Bern, Verlag Hans Huber.
Gigerenzer, Gerd (2008): Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Goldmann Verlag.
Glimcher, Paul; Camerer, Colin; Fehr, Ernst; Poldrack, Russell (Hrsg.) (2009): Neuroeconomics: Decision Making and the Brain. Amsterdam: Elsevier/Academic Press
Holtfort, Thomas (2011): Intuition, Risikowahrnehmung und Investmententscheidungen. Essen: Akademie Verlag.
Luhmann, Niklas (1991). Soziologie des Risikos. München: deGruyer Verlag.
Talab, Nassim (2008): The Black Swan: The Impact of the Highly Improbable. Penguin Verlag.
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